Henry

von Udo Biemüller

Ich hatte ihn gesehen! Ganz sicher. Mitten in der Fußgängerzone.
Ohne mich zu bemerken, vielleicht, ohne mich bemerken zu wollen, war er an mir vorbeigegangen: Henry!
Schon ein paar Meter zuvor hatte ich ihn bemerkt. Er ging auf mich zu. Zunächst hatte ich ihn eher verstohlen angeschaut. Beinahe zufällig. Dann, auf gleicher Höhe, habe ich ihn regelrecht angestiert. Völlig unmöglich, dass mich mein alter Schulfreund nicht erkannt haben sollte?!
Gut, es war ein wunderbarer, sonniger Nachmittag gewesen. Eine belebte Straße voller Menschen. High Noon in dieser glitzernden, bunten Welt voller Angebote und Verlockungen. Da gehen Gesichter schon mal unter, verschwimmen im Getümmel von schwirrenden Menschen. Aber Henry war keinen Meter an mir vorbei geschlendert. Ich hätte ihn anfassen können. Im Nachhinein habe ich mich oft gefragt, warum ich das nicht getan hatte? Vielleicht aus der Unsicherheit heraus, ihn doch verwechselt haben zu können. Vielleicht, weil man so etwas nicht tut. Ansprechen, okay. Aber anfassen? Vielleicht auch einfach aus Angst vor seiner Reaktion. Letztlich wahrscheinlich einfach deshalb nicht, weil es nicht Henry sein konnte. Kein Mensch hatte ihn seit über einem Jahr gesehen. Wie auch? Henry war tot! Mausetot! Daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Er sollte eigentlich friedlich in seiner Gruft schlummern und nicht fröhlich und unbekümmert, so als sei nichts, durch die Fußgängerzone spazieren …
Ich selbst hatte seinen Sarg, zusammen mit Phil, Frank und ein paar anderen Freunden, von der kleinen Kapelle zu dem frisch ausgehobenen Erdloch getragen, das ihn dunkel und modrig muffelnd erwartete. Wir hatten ihn da hinuntergelassen. Begleitet von dem zutiefst verstörenden Gefühl, ihn eigenhändig begraben, ja, ihn geradezu verraten zu haben. Wir ließen ihn allein. Unseren Freund. Alle hatten seitdem an dieser Erinnerung zu knabbern, keiner konnte diesen schmerzhaften Moment hinter sich lassen.
Völlig unmöglich also, dass mir heute Henry begegnet war!
Oder?
Ich musste unwillkürlich an diesen Abend denken, etwa ein halbes Jahr vor Henrys plötzlichem Tod.
Ein Abend, der mich noch lange beschäftigt, mir keine Ruhe mehr gelassen hatte. Und der dann doch in Vergessenheit geraten war. Wie das so oft geschieht mit Gedanken, die einem wichtig und überlegenswert erscheinen, um schließlich trotzdem im endlosen, reißenden Strom bewussten Denkens unterzugehen.
Ich setzte mich in ein kleines Straßencafé, bestellte einen großen schwarzen Kaffee und versuchte mich an diesen einen Abend zu erinnern.
Wir hatten uns bei Frank getroffen. Die ganze alte Clique. Genau die vier, die schon in der Schule nebeneinandergesessen hatten. Die später alle an der gleichen Hochschule studiert und sich dann doch im Laufe der Zeit mehr und mehr aus den Augen verloren hatten. Diesem Lauf des Lebens hatten auch wir nichts entgegenzusetzen. Da half auch unser Schwur nichts, dass es bei uns, gerade bei uns, ganz anders laufen solle. Nichts und niemand solle diese tiefe Verbundenheit jemals auseinanderbringen können. Niemals!
Frank war der erste, der ausscherte: er habe seine absolute Traumfrau kennengelernt! Phil folgte ihm nahezu unmittelbar. Mit dem Unterschied, dass er es gar nicht eilig genug haben konnte, sofort zu heiraten und eine Familie zu gründen. Henry ging längere Zeit beruflich ins Ausland. Man sah und hörte kaum noch etwas von ihm. Allein ich hatte das Gefühl, als einziger die Flagge hoch zu halten und den Verlockungen zu widersagen, um hier in unserem kleinen Städtchen unseren Rückzugsort, unsere Curia in Form einer 3 Zimmer Wohnung zu behaupten. Die Lächerlichkeit dieses Ausdrucks spätpupertierender Rebellion war mir dabei durchaus bewusst.
Nichtsdestotrotz schafften wir es dann doch nach einigen Jahren, uns immerhin einmal im Jahr zusammenzufinden, um in Erinnerungen zu schwelgen, Neuigkeiten auszutauschen oder einfach mal auszubrechen und für ein paar Stunden nochmal die Unbeschwertheit früherer Tage zu genießen. Meist soffen wir, was das Zeug hielt.
An besagtem Abend allerdings kam alles anders. Und es war Henry, der damit anfing.
Henry, der es damals innerhalb kürzester Zeit zu ansehnlichem Wohlstand gebracht hatte. Begünstigt durch eine beachtliche Erbschaft, noch während unserer Studienzeit, war es ihm gelungen, eine Firma im seinerzeit aufkommenden Segment der Computertechnologie aufzubauen, um sich damit innerhalb eines Wimpernschlages an die Weltspitze in diesem Bereich zu setzen.
Henry hatte Geld. Viel Geld.
Ich kam zurück von der Toilette. Alle schienen auf mich zu warten. Henry stand am Tisch. Er hielt mir ein Glas entgegen. Champagner. Hui …
Ich blickte fragend in die Runde.
„Henry möchte einen Toast aussprechen!“, klärte mich Phil auf.
Im Nachhinein muss ich sagen, dass das nun keine große Sache war. Ein Toast. So oft schon ausgesprochen, zu allen möglichen Gelegenheiten. Völlig normal. Gerade unter uns, nicht wirklich etwas Besonderes. Vielleicht irritierte mich aber die feierliche Miene, die Henry aufgesetzt hatte.
Ich griff nach dem Glas, das er mir entgegenstreckte und setzte mich.
„Was gibt´s?“, fragte ich.
Er grinste. „Auf was ich mit euch anstoßen möchte, ist ebenso simpel wie erfreulich!“
„Mach´s nicht so spannend!“, forderte ihn Frank auf.
Henry räusperte sich noch einmal.
„Mein Trinkspruch lautet: Lasst uns darauf anstoßen, dass sich jeder von uns in bester Gesundheit befindet! Vor allem, und darauf kommt es mir besonders an: dass wir noch um niemanden aus dieser Runde trauern mussten!“
Wir schauten uns fragend an.
„Prost!“
Er hob sein Glas, nickte uns zu und nahm einen Schluck.
Wieder blickte ich zu Phil und Frank. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich meine Verwirrung wider.
Henry stand noch immer. Er schaute einen nach dem anderen an. Dann drehte er sich von uns weg, um einen Sessel aus der Ecke des Raumes an den Tisch zu schieben. Er ließ sich darin nieder und steckte sich genüsslich eine Zigarette an. Sichtlich zufrieden mit unserer Reaktion.
„Na denn: Prost!“, beschloss ich, das Schweigen zu brechen.
„Moment mal …“, Phil legte die Stirn in Falten, „… wie meinst du das?“
Henry zog an seiner Zigarette und blies kleine Ringe in die Luft.
„Was meine ich wie?“
„Na, …“, fuhr Phil fort, „… mit diesem Spruch! Klar, kann man mal so machen. Aber wieso gerade jetzt?“
„Weshalb nicht?“, Henry setzte sich auf.
„Weil bis eben die Stimmung super war. Weil wir endlich mal wieder von alten Zeiten gequatscht und albernes Zeug erzählt haben. Kommt selten genug vor. Mich zieht das jetzt völlig runter!“
Frank nickte zustimmend.
„Heißt das, ihr macht euch keine Gedanken über den Tod? Keine Gedanken um die eigene Vergänglichkeit?“, fragte Henry.
„Doch schon!“, schaltete sich Frank ein, „Das geht wohl jedem mal durch den Kopf. Aber mal abgesehen von einem Unfall oder ähnlichem sind wir doch wohl noch ein wenig zu jung, um uns ernsthaft mit dieser Vorstellung zu beschäftigen?“
„Zu jung?“, man sah Henry deutlich an, dass ihm dieses Thema am Herzen lag, „Hast du ‚zu jung’ gesagt?“
„Ja. Habe ich“, erwiderte Frank, „Findest du nicht?“
„Ganz und gar nicht! Wie kann man denn zu jung für den Tod sein?“, Henry machte eine kurze Pause, „Zweifelsohne ist man irgendwann zu alt zum Leben …“, setzte er kopfschüttelnd nach.
„Worauf willst du eigentlich hinaus?“, fragte ich ihn ganz direkt.
Er schaute mich einen Moment lang fest an.
„Macht euch mal kurz Gedanken über folgende Aussage: Mit den Jahren altert der Körper, aber, und das ist sehr wesentlich, der Geist gewinnt zunehmend an Schärfe! Fällt euch etwas auf?“
„Ach du Schande, was ist denn jetzt los?“, entfuhr es mir.
Phil hingegen setzte den skeptischsten Gesichtsausdruck auf, den er besaß: „Willst du damit sagen: Körper und Geist bilden keine Einheit?“
„Genau das ist es doch, mein Lieber!“, Henrys Augen bekamen ein seltsames Leuchten, „Im Laufe des menschlichen Lebens strebt der Körper dem Verfall entgegen, wohingegen der Geist, mit zunehmendem Alter, sich an Verstand und Wissen ständig weiterentwickelt!“
„Aber das würde doch bedeuten, dass Körper und Geist in ihrer Entwicklung irgendwie gegenläufig sind, oder!?“, Frank schien auf einmal interessiert.
„So könnte man es ausdrücken“, bestätigte ihn Henry, „Körper und Geist können gar keine Einheit bilden, da beide, von ihrer Bestimmung her, komplett verschieden angelegt sind: Der Alterungs- und damit der Verfallsprozess des Körpers steht konträr zum Streben nach Perfektion und Vollkommenheit des Geistes!“
Ich bemerkte ein spöttisches Lächeln, das um Phils Mundwinkel zuckte.
Und da hatte ich mich nicht getäuscht: „Aha …“, fing er an, „und wie erklärst du uns aber die zunehmende Senilität oder gar Demenz alter Menschen? Das ergibt deinen Ausführungen zufolge doch überhaupt keinen Sinn! Im Gegenteil: die geistige Beweglichkeit müsste sich doch immer weiter steigern? Sie müsste nahezu permanent hinzugewinnen und wachsen!“
Henry nickte vielsagend. „Selbstverständlich ist das so!“
Wieder schauten wir uns verwundert an. Bis er fortfuhr: „Du darfst dabei allerdings nicht außer Acht lassen, dass das Gehirn, als Schaltzentrale unseres Verstandes und somit als Verkörperung unseres Geistes, dem biologischen Verfall ebenso unterliegt, wie der Rest des Körpers. Oder mit anderen Worten: Bestünde unser menschlicher Geist nicht aus körpereigener Materie, wäre er also losgelöst davon, dann würde genau das geschehen, was du gerade beschrieben hast!“
Eine Sache im Verlaufe des bisherigen Gespräches störte mich, sie ging mir nicht so recht in den Kopf. Ich fragte danach: „Entschuldigt! Henry, alles schön und gut … warum aber war es dir vorhin so wichtig, uns darauf hinzuweisen, dass wir uns mit dem Tod beschäftigen sollten?“
Frank reagierte darauf, noch bevor es Henry konnte: „Ich denke, ich weiß worauf unser Freund hinauswollte und will: Der Tod, als das natürliche Ende unseres körperlichen Verfalls, nimmt dem Geist die Möglichkeit zur Vollkommenheit!?“
„Nicht ganz,“ bemerkte Henry, „absolute Vollkommenheit könnte er nie erlangen, da er ja immer weiter hinzulernen würde. Es kann kein Ende dabei geben. Absolute Vollkommenheit kann nur ein imaginäres Ziel sein, das der Geist allerdings niemals erreichen kann. Vielleicht auch gar nicht will, da er um das Unfassbare weiß.“
Phil ging zum Kühlschrank, um einige Flaschen Bier zu holen. Er stellte sie auf dem Tisch ab, während Henry seine Ausführungen erweiterte: „Was ich vorhin mit meinem Toast im Hinterkopf hatte, war im Grunde dies: Wir alle können uns wahrhaft glücklich schätzen, uns bis dato bester Gesundheit zu erfreuen. Aber das Leben ist endlich! Auch für uns“, er grinste, „Das sollte man sich immer vor Augen halten und damit umzugehen lernen. Manch einer registriert diesen Umstand als unausweichliche Konsequenz des Daseins. Andere wiederum ignorieren die Tatsache als solche oder versuchen sie zumindest zu verdrängen.“
Er atmete tief und hörbar ein.
„Und da sind wir dann an einem sehr wichtigen Punkt angelangt: Der Geist eines jeden Menschen weiß, dass er bedingt durch den körperlichen Verfall sterben muss. Er wird mit dem Körper in den Tod gerissen, ohne sich dagegen auflehnen oder gar wehren zu können. Er ist gezwungen, sich auf diesen Moment einzurichten. Er begreift ihn als unumstößliche Wahrheit.“
Phil stimmte dem zu:
„Deswegen sehen ältere Menschen dem Tod oft gelassener ins Auge als jüngere!“
„Aber das ist doch paradox!“, widersprach ich, „Einen alten Menschen und damit einhergehend einen weiter fortgeschrittenen Geist, müsste doch der Tod als abruptes Ende auf seinem Weg zur Vollkommenheit viel härter treffen, oder sogar schier verzweifeln lassen!“
„Beides scheint mir richtig“, meinte Henry dazu, „Und dieser Umstand ist nur mit Zwiespalt zu erklären. Eine Zerrissenheit, die nicht aufzulösen ist. Zumindest nicht an diesem Punkt. Viel zu weit weg von absoluter Erkenntnis, ist es unserem geistigen Menschsein nicht möglich … noch nicht möglich … dieses Dilemma zu erfassen und zu verarbeiten. Körper und Geist sind einfach nicht dazu bestimmt, gemeinsam zu sterben.“
Es entstand ein unbehaglicher Moment des Schweigens. Das Gesagte wirkte in uns dreien. Es wühlte auf. Ohne dabei einen fassbaren Gedanken zuzulassen.
Frank wandte sich schließlich Henry zu: „Glaubst du, dass ,Geist’ und ‚Seele’ zwei Begriffe für das Gleiche sind?“
Henry überlegte nicht lange: „Nein, das denke ich nicht! Meiner Meinung nach ist das, was man allgemein mit ,Seele’ beschreibt, das gesamte Wesen des Menschen, nur eben in entkörperlichter Form. Sprich: Sein ganzes spezifisches Individuum als solches. Es ist vor allem aber eine Glaubenssache, eine religiöse Deutung. Was auch völlig in Ordnung ist und seine Berechtigung hat, uns aber an dieser Stelle nicht weiterhilft.“
Er machte eine kurze Pause, so als müsse er sich anstrengen, die Konzentration nicht zu verlieren. Um dann aber nahtlos fortzufahren: „Der Geist dagegen ist das, was als Verstand, als eine Ansammlung von Wissen und Erfahrung, dieses Wesen leitet. Es ist ihm daher nicht möglich, ohne diese Körperlichkeit zu existieren. Aber dieses Paradoxon der Symbiose von Körper und Geist könnte man möglicherweise recht leicht beweisen … und wohl auch ebenso einfach beseitigen!“
Ich blickte Henry erstaunt an. Mir schien, als steuere er so allmählich auf den Kern seiner Überlegungen zu.
„Ahh! Und wie?“, erkundigte sich Phil mit einer Mischung aus Ablehnung und bewusstem Spott.
Henry ließ sich eine Menge Zeit bevor er antwortete. Man konnte förmlich spüren, dass es ihm nun um etwas unerhört Wichtiges ging, etwas, das er so präzise wie möglich veranschaulichen wollte.
„Stellt euch mal folgendes vor: …,“ begann er, „… stellt euch vor, es wäre möglich, den menschlichen Geist vom Körper zu trennen … ihn nach dem Tode seines, ich nenne ihn jetzt mal ,Wirtskörpers’, zu erhalten und zu konservieren. Um ihm dann ein Weiterexistieren in einem anderen, neuen Wirtskörper zu ermöglichen. Und dies wieder und wieder! Man käme einer Art Unsterblichkeit und damit der Möglichkeit des Erreichens beinaher Vollkommenheit nahe.“
Seine Worte zeigten augenblicklich Wirkung.
„Das sind doch Hirngespinste!“, erregte sich Phil, „Absoluter Blödsinn!“
„Vielleicht, aber ich bin dennoch der Meinung, dass dies durchaus zu verwirklichen wäre“, entgegnete ihm Henry, „Gentechnisch scheint es mir kein größeres Problem darzustellen, einen menschlichen Körper zu klonen. Mit Hilfe moderner Computertechnik, beispielsweise Biocomputing, sollte es durchaus irgendwann möglich sein, den menschlichen Geist zu erfassen, zu archivieren, um ihn später in die neue biologische Hülle, also das Gehirn, einzuspeisen!“
„Gehst du da nicht ein bisschen weit?“, hakte ich ein.
„Weshalb?“, erwiderte Henry enthusiastisch, „ Ein alter Menschheitstraum würde, auf Umwegen natürlich, wahr werden können: Ewige Jugend verbunden mit nahezu vollkommener Weisheit!“
„Du bist entweder verrückt geworden oder aber mittlerweile völlig betrunken?!“, ereiferte sich Phil, inzwischen sichtbar angewidert, weiter.
Frank, der sich eine Weile zurückgelehnt hatte, hüstelte theatralisch, um sich nun wieder in die Diskussion einzubringen: „Was du da beschreibst, stellt das menschliche Leben auf absurde Weise auf den Kopf!“
Und weiter: „Mal ganz abgesehen davon, dass ein solcher Vorgang ganz andere, neue Probleme mit sich brächte, würde sich der Mensch in diesem Szenario an die Position Gottes stellen! Ganz gleich ob es einen solchen tatsächlich gibt oder nicht, würden wir doch alles, was wir seit alters her mit ,Göttlichem’ verbinden für uns beanspruchen!“
„Absolut!“, entgegnete Henry, „Wir sind gottgleiche Wesen! Nichts anderes behaupten nahezu alle Religionen. Von daher steht meine Vision nicht im Widerspruch dazu, im Gegenteil: sie erfüllt diese Prophezeiung auf nicht gekannte Weise und vollendet sie!“
Man merkte Phils inneren Kampf deutlich. Sein Realitätsbewusstsein wurde hier gefährlich auf die Probe gestellt.
„Das stellt doch einen evolutionären Widerspruch dar!“
„Ja“, gab ihm Henry recht, „ Evolution, so wie wir sie bisher definierten! Diesen Begriff müssten wir völlig neu beschreiben. Allerdings nicht im Sinne von Fort- oder Weiterentwicklung! Denn dies geschähe ja auch weiterhin …!“
„Aber, …“ warf ich ein, „… diese Art der Evolution beträfe nur noch den menschlichen Geist. Der Körper bliebe für alle Zeiten in seiner jetzigen Form erhalten. In dieser Hinsicht würde eben keine Weiterentwicklung mehr stattfinden. Und das halte ich für sehr gefährlich!“
„Ach komm!“, winkte Henry ab, „Natürlich könnte man den Körper bei Bedarf modifizieren und anpassen.“
„Okay, aber was ist mit Fortpflanzung? Mit unseren Nachkommen? Darf es die in jetziger Form nicht mehr geben?“, ich gab noch nicht klein bei. Noch nicht!
Henry allerdings auch nicht: „Natürlich wirft das Fragen auf! Natürlich wird es da Probleme geben! Aber die werden lösbar sein!“
„Das beginnt doch schon damit, dass niemand weiß, wie oft ein Körper aus sich selbst ,klonbar’ ist?“, wurde Frank nun pragmatisch.
Mir gingen da eher andere Dinge durch den Kopf: „Ich glaube, die entscheidenden Fragestellungen werden ethischer Natur sein!“, und weiter, „Hat der Mensch überhaupt das Recht nach Vollkommenheit zu streben? Zudem: Bist du sicher, dass dieses wiederholt vervielfachte Individuum in hundert Jahren noch dasselbe sein wird?“
„Ich kann mir gut vorstellen, dass diese neue Form der Evolution auch neue Spannungen hervorbringen würde!“, Phil gab seine Strategie der totalen Ablehnung nun auf, „Eine Evolution für Reiche! Eine Evolution an dem, was uns Menschen ausmacht, vorbei!“
Henry nickte abermals: „Ich sage ja: Es wird Probleme geben! Probleme, die wir uns heute noch nicht vorstellen können! Aber ich sage auch: Wenn es möglich ist, lasst es uns versuchen! Lasst uns die Endlichkeit besiegen!“
„Da bin ich mir wirklich nicht sicher!“, schüttelte ich zweifelnd den Kopf.
„Ich ebenso nicht!“, Phil wirkte sichtlich angeschlagen.
„Freunde …“, begann Frank, „ich glaube, für heute genügt das! Lasst uns den Abend beenden!“
„Gut!“, stimmte ihm Henry zu, „Machen wir Feierabend!“
Er lachte.

„Hören Sie?! Ich möchte gerne kassieren! Ich werde gleich abgelöst!“
Ich schaute auf. Die Kellnerin blickte mich eindringlich an. Ich erkundigte mich, was ich denn schuldig sei und bezahlte.
Mit einem Male verstand ich, weshalb Henry damals so schnell einverstanden gewesen war, diesen Abend an jener Stelle ausklingen zu lassen: Er hatte alles gesagt! Er war fertig!
Zu einem weiteren Treffen mit uns allen war es nie mehr gekommen. Ein paar Monate später hatte ich von Henrys Tod erfahren. Krebs!
Gewusst hatte er es wohl schon lange vorher, gesprochen darüber allerdings mit kaum jemandem.
Und in dem Moment hatte ich es nun plötzlich furchtbar eilig. Was, wenn Henry gar keine Vision gehabt hatte? Was, wenn er uns einfach seine ganz privaten Zukunftspläne geschildert hatte? Vielleicht konnte ich ihn doch noch irgendwo erwischen, diesen Typen, der mich so nachhaltig an Henry erinnert hatte. Wie im Fieber lief ich die Straßen ab. Schaute hektisch nach links und rechts.
Ich begann zu rennen! Hatte jetzt keine Zeit mehr zu verlieren!
Wir würden uns viel zu erzählen haben!
Henry und ich.
Wenn er es denn war …

 

 

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